Manifest: Das Kino des Unkonkreten

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Kunst muss auf jede Krise eine Antwort finden. Das Selbstverständnis des neuen deutschen Films, den Menschen als Kulturwesen zu durchleuchten, hat denselben auf ein Subjekt reduziert, das sich an der Lösung gesellschaftlicher Fragen abarbeitet. Diese Geschichten vom Kulturwesen haben den Menschen davon überzeugt, selbiges zu sein. Die Aufmerksamkeit liegt auf dem zu ergründenden psychologischen Erbe des  menschlichen Sozialverhaltens. Sozioökonomische und historisch politische Konstellationen geraten in den Mittelpunkt eines auf Subjekt und Objekt untersuchten Verhältnisses zwischen Mensch und Mensch oder Mensch und Umwelt. Aber der Mensch und die Welt lassen sich nicht darauf reduzieren.

Der Mensch ist Aktant einer Mitwelt voller Aktanten, nicht voller Objekte. Er ist Teil eines größeren Organismus, den er nicht durchschauen kann, dessen Wirkmächte und Eigenartigkeiten ihm entfremdet erscheinen. Folgerichtig versucht er diesen durch Aggression und Distanzierung zu entkommen. Das Subjekt-Objekt-Verhältnis zwischen dem sozial verflochtenen Kulturwesen Mensch und der Entität Erde ist verbraucht. Die Technologie bedient diese Art der Grenzziehung und suggeriert dem Menschen Überlegenheit. Wir schaffen uns Instrumente der Distanzierung und des Informationsgewinn. Wir bemessen, verzeichnen, berechnen und kategorisieren. Die Sprache der Wissenschaft und die Idee von Zivilisation gehen über das subjektive Empfinden der Mensch-Erde-Verwandschaft hinweg. Das Unverstandene wird eher bekämpft, als erkannt. Menschen, die den unterdrückten Kräften der Mensch-Erde-Verwandschaft nachgehen, werden von der vorherrschenden Theorien Inkonsequenz im Denken und Esoterik im Handeln unterstellt. Die Leerstelle, die sich hinter dem Erkenntnishorizont unserer Medien, Datensätzen und Evaluationen verbirgt, wird nicht als solche anerkannt. Sie ist nur ein weiteres, nicht bestelltes Feld, das vermessen, kategorisiert und verstanden werden muss. Ein Ergebnis ist unausweichlich, der Erkenntnisgewinn verläuft nicht immer planmäßig, aber doch immer geplant. Der rationale Wissenserwerb scheint als Methode absolut. Nicht konkretisierbar meint: nicht erzählbar. Aber was wir wissen, das müssen wir zuallererst auch glauben. Und spüren wir nicht, ja fühlen wir nicht die Grenzen unserer Analytik ohnehin? 

Kino darf den Menschen nicht nur begreifen wollen, es muss ihn zunächst einmal aushalten. Mit all seinen ungelösten Fragen und Unkonkretheiten. Von ihm, in einem Duktus der durch Gesetzmäßigkeiten zu beschreibenden Natur, seiner Natur, zu erzählen, ist also schlichtweg unzureichend. Das Analysieren und Psychologisieren zieht die Grenzen. Das Kulturwesen allein ist nicht der Mensch. Im Kino kann der Mensch anders dargestellt werden. Kino kann die Fieberträume, die Auswüchse und Sehnsüchte und das innere Erleben von Erinnerung fassen. Kino kann das Sprechen mit Orten, das subjektive Erlebnis von Zeit oder gar das Verschwinden in der Welt umreißen. All das findet im Leben tatsächlich statt, lässt sich aber nur schwer erfassen. Hier muss das Kino also das Wagnis eingehen, Unkonkretes erfahrbar zu machen.

Wie, wenn nicht dank der Kunst, kann ein neues Verhältnis gegenüber der Natur unseres Wesens und der des Planeten erfahrbar gemacht werden, statt ausschließlich durch die Beschreibung ihrer Gesetzmäßigkeiten? Wie wollen wir leben, wenn wir das Leben selbst vernichten? Wie träumen, wenn wir unsere Traumlandschaft in Brand setzen? Wie wollen wir Mensch sein, ohne Zugang zu einer Ursubstanz, aus der wir gewachsen sind? Wir müssen diese Verbindungen ernst nehmen.

Das Kino des Unkonkreten zertrümmert den sterilen Sarkophag der systemischen Ontologie, auf dass Pilze und Parasiten der Verwunderung ihr Geflecht wuchern lassen. Das Kino des Unkonkreten erkennt das geisterhafte Wandeln des Menschen und das Geistige im Wandeln des Planeten.  Das Kino des Unkonkreten übt sich im Schweigen. Es übt sich im Schreien. Im Zuhören und Observieren,. Es sieht das Wanken der Äste, Ruhen der Steine, Wachsen der Sträucher. 

Das Kino des Unkonkreten verpflichtet sich, das Menschliche Urtrauma, nackt der Erde ausgeliefert zu sein, ernst zu nehmen. Das Kino des Unkonkreten verpflichtet sich, dem Artifiziellen des deutschen Kinos eine vor Geistesgegenwärtigkeit strotzende Naturalität entgegenzusetzen, bis daraus ein neues Subjekt-Subjekt-Verhältnis zwischen Mensch und Erde durchschimmern kann. Das Kino des Unkonkreten widmet sein filmisches Schaffen den nicht konkret formulier- und messbaren Erfahrungen des Menschseins in der Welt. Es widmet sich den nicht auszuschließenden Lösungswegen zwischen Sein und Nicht-Sein.

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